von Sigrid Bongartz
Sie zittert am ganzen Körper. Nein, sie friert nicht, obwohl sie nur leicht bekleidet ist. Es ist die pure Angst.
Sie sitzt auf einem harten Stuhl. Das spürt sie. „Wo bin ich“, fragt sie sich. Alles ist schwarz, alles ist düster. Sie kann nichts sehen. Ihre Augen sind verbunden. Sie versucht, sich die Binde von den Augen zu reißen. Doch sie kann ihre Hände nicht bewegen. Sie ist gefesselt. Am Stuhl gefesselt. Langsam macht sich Panik in ihr breit. „Wie bin ich hierhergekommen? Wurde ich betäubt?“ Sie überlegt fieberhaft.
Ihr wird klar, dass sie entführt worden ist. Aber warum? Will jemand Lösegeld? Sie fühlt sich hilflos und ausgeliefert.
Aus ihrem Mund kommt das Wort: „Hilfe.“ Dann lauter: „Ist hier jemand?“ Sie bekommt keine Antwort.
Sie versucht sich zu erinnern. Was war geschehen?
Sie, Andrea, hatte ihren 65. Geburtstag in großer Runde gefeiert.
Kleine Fetzen eines Geschehens fallen ihr ein. Was Rang und Namen hatte war ihrer Einladung ins Mercure gefolgt. Es herrschte Feierlaune.
Sie ist ein Star, eine bekannte Persönlichkeit. Nicht nur in ihrer Heimatstadt, in der sie sich um kranke und behinderte Kinder kümmert. Sie hat immer wieder Fernsehauftritte. Irgendwann war sie betrunken. Zu dem Zeitpunkt waren nur noch wenige Gäste anwesend. An das, was danach geschah, kann sie sich nicht mehr erinnern.
Ihre Tochter hatte sie an dem Abend nicht wahrgenommen. Sie hatte sie gar nicht bemerkt.
Plötzlich hört sie ein Geräusch. Ein Quietschen, als würde eine Tür geöffnet …
Jemand betritt den Raum. Sie hört ein Klacken von Schuhen auf einem Betonboden, denkt, es könnte eine Frau mit High Heels sein.
Dann wird das Deckenlicht eingeschaltet. Grelles Licht durchflutet den Raum. Sie bemerkt es, trotz ihrer Augenbinde. Die Wände sind weiß getüncht. Es gibt kein Fenster. Die Türe, durch die die fremde Person gekommen ist, ist eine Stahltüre. An einer Wand steht ein Tisch. Zwei Stühle davor.
Das alles nimmt Andrea wahr, nachdem der Entführer auf sie zugegangen und ihr die Augenbinde abgenommen hat.
Sie betrachtet die fremde Person. Es ist eindeutig keine Frau. Sie ist ganz in schwarz gekleidet mit einer Lederjacke, einer Lederhose, Handschuhen und Springerstiefeln. Eine schwarze Mütze ist bis zum Hals über das Gesicht gezogen. Nur die Augen sind frei.
Dann sagt die Person mit verzerrter, metallisch klingender Stimme: „Ob du hier wieder lebend herauskommst ist noch ungewiss.“
Der Mann wirkt furchteinflößend auf sie. „Wenn Sie Geld wollen bekommen Sie es. Nur lassen sie mich hier wieder lebend raus. Ich tue alles, was Sie wollen.“
Der Mann in Schwarz lacht bitter.
Dann setzt er sich auf einen der beiden Stühle, schlägt die Beine übereinander. „Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte. Hör gut zu“, beginnt er.
Es war einmal ein kleines Mädchen, nennen wir es Rike, es war neun Jahre alt, als der Vater Gefallen an ihm fand. Ab diesem Tag war ihre bis dahin unbeschwerte Kindheit vorbei.
Er kaufte ihr schöne Kleider, zierliche Kettchen und Spitzenunterwäsche. Er bürstete ihr langes blondes Haar, steckte ihr einen Haarreif hinein. Zuerst gefiel Rike das. Ihre Mutter war weniger begeistert. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter derart verwöhnt wurde. Doch der Vater meinte: „Sie ist doch unser einziges Kind.“
Nachdem Rikes Kleiderschrank mit teurer Prinzessinnengarderobe gefüllt war, ermunterte ihr Vater sie zu einer Modenschau. Sie sollte sich ausziehen und die neuen Kleider anprobieren. Davon wollte er schöne Fotos schießen. Beim Anziehen der Unterwäsche war er ihr behilflich. Sie bemerkte gar nicht, dass der Vater sie dabei mit dem Finger im Höschen streichelte.
Als er seine Hose öffnete, sie seinen Penis … erspare mir weitere Details. Es ist zu abartig. „Das hier ist unser Geheimnis“, hatte er gesagt. „Mama darf es nicht erfahren. Ich bereite dich lediglich auf dein späteres Leben vor.“
„Warum erzählen Sie diesen Unsinn? Ein Vater, der sein Kind liebt, würde so etwas nie tun. Das entspringt alles Ihrer schmutzigen Fantasie. So etwas gibt es nicht.“ Andrea ist entsetzt und vergisst, dass sie mit ihrem Entführer spricht.
„Hör mir einfach zu und halt die Klappe.“ Der Mann ist wütend. Redet dann unbeirrt weiter.
Rike wurde von einem derartigen Ekel übermannt, dass sie ihm mit aller Kraft in den Penis biss.
Er blutete wie verrückt. Schrie: „Du Schlampe, damit kommst du nicht durch.“ Sie aber rannte, so schnell sie konnte, aus dem Zimmer und aus dem Haus.“
„Widerlich. So etwas tut kein Kind“, Andrea schüttelt den Kopf. Doch allmählich wird sie nachdenklich. „Was wollen Sie überhaupt von mir?“
„Wer hier widerlich ist wird sich noch herausstellen“.
Er redet weiter.
Doch wo sollte sie nun hin? Mit der Mutter durfte sie ja nicht reden. Oder doch? Sie versteckte sich erst einmal im Gartenhäuschen, das am Ende des Grundstückes lag. Sie zitterte am ganzen Körper, musste nachdenken, sich erst einmal beruhigen.
Die Mutter kam am Abend von einem ihrer Auftritte zurück. Rike hatte neuen Mut gefasst und war der Mutter entgegengelaufen. Als diese Rikes geschminkte Lippen, die getuschten Wimpern, das rote Kleidchen sah, schrie sie das Mädchen an: „Du siehst aus wie eine Nutte. Hat Papa das gesehen? Wo kommst du jetzt her?“
„Papa hat das gemacht“, hatte Rike sie verzweifelt angeschrien, sich umgedreht und war weggelaufen. Von der Mutter konnte sie keine Hilfe erwarten.
Rike wurde auf der Straße groß.“
„Macht es jetzt klick bei dir, du Miststück?“ Andrea bemerkt, dass der Entführer wütend ist. In ihr steigen Erinnerungen auf. Keine guten.
Er steht vom Stuhl auf, geht auf Andrea zu und schlägt ihr mit der behandschuhten Hand ins Gesicht. Auf ihrer Wange zeichnen sich rote Striemen ab.
„Du hast dein Leben verwirkt. Du kennst die Geschichte. In all den Jahren hast du nichts unternommen, um deine Tochter zu finden. Es ging und geht immer nur um dich“.
Damit setzt er sich wieder auf den Stuhl am Tisch, zieht etwas aus der Jackentasche. Dann liegt eine Waffe auf dem Tisch.
In diesem Moment klingelt ein Handy. Der Entführer greift in die Brusttasche seiner Lederjacke, zieht seins hervor und nimmt das Gespräch an.
„Mache ich. Noch ein paar Minuten.“ Er steckt das Handy wieder ein.
„Jetzt erzählst du deine Geschichte. Und sag nicht, dass du sie nicht kennst.“ Die Worte klingen hart.
In Andrea bricht alles zusammen. Was sie seit Jahrzehnten verdrängt, durch ihren Beruf kompensiert hatte, knallt ihr nun ins Gesicht. Sie kann sich nur mühsam beherrschen. Außerdem tun ihr die gefesselten Hände weh, ihr Mund ist wie ausgetrocknet. Sie hat den Drang, Wasser lassen zu müssen.
Plötzlich öffnet sich die Stahltüre. Eine Frau tritt ein, bleibt vor Andrea stehen. Diese bemerkt ihre ebenfalls schwarze Kleidung, ihr blondes langes Haar und ihre ausdrucksvollen blauen Augen. Die blauen Augen ihres verstorbenen Mannes.
„Stella“, kommt es leise aus ihrem Mund.
„Erzähl nur weiter MUTTER“, sagt diese sarkastisch. Dabei setzt sie sich auf den freien Stuhl am Tisch.
„Meine Tochter heißt nicht Rike. Sie heißt Stella“, bringt sie mühsam hervor.
„Wir haben sie sehr geliebt. Sie war aber auch anstrengend. Mein Mann war so vernarrt in sie, dass er mich dabei vergaß. Ich war eifersüchtig auf meine Tochter. Als sie an dem einen Abend vor unserem Haus auf mich zugelaufen kam …“, sie schüttelt den Kopf, „war mein erster Gedanke, dass sie ein Flittchen war und ihren Vater verführen wollte. Ich war außer mir vor Eifersucht und Hass.
„Knall sie ab, Lex. Ich habe genug gehört“, sagt Rike.
„Nein, Baby, noch nicht. Lass sie weitererzählen.“ Damit zieht er seine Mütze vom Kopf.
Andrea sieht in das Gesicht eines attraktiven Mannes mit schwarzem Haar und einem Dreitagebart. „Das Gesicht kenne ich – irgendwo her“. Sie denkt angestrengt nach. Doch es fällt ihr nicht ein.
Stella lief weg. Wütend schrie ich ihr noch hinterher. Sie lief einfach weiter. Ich sah sie nie wieder.
Mein Mann lag verblutete in Stellas Zimmer. Es war furchtbar. Er war Bluter und lag mehrere Stunden ohne Hilfe im Haus. Bei dem Versuch den Notarzt zu rufen hatte er sich eine weitere Verletzung zugezogen. Die Polizei stellte nur noch seinen Tod fest. Sie war der Überzeugung, dass meine Tochter etwas mit dem Tod ihres Vaters zu tun hatte. Eine Vermisstenanzeige für Rike wurde aufgegeben. Sie wurde nicht gefunden. Ich war verbittert, wollte sie auch nicht wiedersehen. Trost, Ablenkung und Vergessen fand ich in meinen Auftritten als Sängerin.“
Schuldbewusst schaut sie Rike an.
„Du hattest keine Ambitionen, deine Tochter wiederzufinden?“ Lex steht auf, geht im Keller auf und ab.
„Nein, lange Zeit konnte ich ihr nicht verzeihen“.
„Das ist nun anders?“, war die Frage an Andrea.
„Ja, irgendwann erfuhr ich, dass mein Mann schon vorher kleine Mädchen angefasst hatte.“
„Ach, welche Erkenntnis“, spottet Rike. „Diese Information habe ich dir zugespielt.“
„Welche Rolle spielen Sie überhaupt in diesem Schmierentheater?“ Andrea hat ihre Contenance verloren. Sie spürt, dass etwas Schreckliches passieren wird.
„Sie ist meine Frau. Sie hat viel Leid erfahren müssen. Und im Gegensatz zu dir, stehe ich zu Rike – in absolut JEDER Lebenssituation“. Er nimmt die Pistole, die auf dem Tisch liegt, in die Hand um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Seine Stimme ist leise und hart: „Du hast keinen Grund zu jammern, du hast immer nur an dich gedacht, nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass deiner Tochter großes Unrecht angetan wurde. Deine Tochter war dir egal.“
Er schaut Rike an. Diese nickt.
„Rike wird sterben. Sie hat einen Gehirntumor im Endstadium. Ihr bleiben vielleicht noch zwei Monate.“ Lex Stimme klingt traurig.
„Oh, du stirbst? Was habe ich nur angerichtet?“ Andreas Verzweiflung wirkt echt, als sie Rike ansieht.
Rike steht auf, stellt sich vor ihre Mutter, sagt noch einmal das Wort „Mutter“, jetzt in einem traurigen Ton.
Dann erfüllt ein Knall den Raum. Ein großes Loch klafft in Andreas Stirn. Dann sackt ihr Kopf nach vorn.
Rike und Lex sehen sich an. Er nickt ihr zu. Dann drehen sich um und verlassen den Keller.
Fortsetzung folgt.
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