Am Rande eines Waldes lebte einst ein kleines Mädchen mit seiner Mutter. Sein Vater war vor langer Zeit gestorben und das einzige, was er zurückgelassen hatte, war eine rote Kappe. Das Mädchen trug diese Kappe jeden Tag und jede Nacht. Deswegen nannten es alle „Rotkäppchen“. Rotkäppchen war kein liebes Mädchen, es ärgerte seine Mitmenschen so oft es ging, spielte Streiche und schwänzte die Schule. Besonders seine Mutter litt unter dem schwierigen Kind.
Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus und sie sagte zu Rotkäppchen: „Rotkäppchen! Ich bin es leid, dass du immer nur Ärger machst! Du gehst und bleibst bei deiner Großmutter, bis du dich geändert hast!“
Die Großmutter war alt, sehr alt, sie saß nur in ihrer Hütte draußen im Wald und tat nichts. Rotkäppchen mochte sie nicht, weil sie langweilig war, es stank dort und es gab nichts Interessantes zu tun. Seine Mutter ließ sich aber nicht von dem Plan abbringen, sodass sich Rotkäppchen kurz darauf auf den Weg machte. Dabei trug es einen Korb mit einem Kuchen, den die Mutter extra gebacken hatte. Sobald es außer Sichtweite war, setzte sich Rotkäppchen auf einen Stein und aß den Kuchen allein auf. Plötzlich hörte es ein Rascheln im Gebüsch. Rotkäppchen kaute langsam, schluckte die Kuchenkrumen hinunter, rutschte leise vom Stein hinab und näherte sich dem Gebüsch. „Hab ich dich!“, schrie es dann und zerrte einen Wolf, den es im Nacken gepackt hielt, aus dem Gebüsch. Der Wolf zog den Schwanz ein und winselte. Rotkäppchen überkreuzte die Arme und legte den Kopf schief. „Was bist du denn für ein Wolf, dass du dich nicht mal ordentlich anschleichen kannst?“ Der Wolf machte große Augen und wollte verschwinden, doch Rotkäppchen verstellte ihm den Weg. „Nichts da. Wenn schon keine Menschen da sind, die ich ärgern kann, dann lass mich wenigstens dich ärgern!“ Nun setzte sich der Wolf aufrecht hin. „Was bist du für ein Kind, das du so voller Hass und Ärger bist? Es scheint mir, als hättest du nie gelernt, was Liebe ist!“
„Pah, was brauch´ ich Liebe? Ich liebe mich, dass reicht ja wohl!“ Der Wolf schüttelte betrübt den Kopf. „Du tust mir Leid, kleines Mädchen. Hoffentlich siehst du es irgendwann ein!“ Und mit diesen Worten verschwand der Wolf.
Rotkäppchen versuchte nicht weiter über den seltsamen Wolf nachzudenken, als es weiterging. Als es bemerkte, dass seine Gedanken immer wieder dahin zurückwanderten, begann es die umliegenden Blumen und Pflanzen zu zertreten, um seiner Wut Luft zu machen. So stampfte und tritt und riss das Mädchen mit der roten Kappe auf der Blumenwiese herum, bis nur noch einzelne Blätter vorhanden waren.
„Sag, liebes Mädchen“, ertönte da eine Stimme von oben herab. Sofort hörte Rotkäppchen auf und blickte sich um, bis es erkannte, woher die Stimme kam. Auf einem Hochsitz befand sich ein Jäger; das Gewehr und das Fernglas in der Hand und schaute zu ihm herab.
„Sag, könntest du mir den Stift aufheben, den ich fallen gelassen habe? Er müsste irgendwo unter mir liegen …“ Rotkäppchen starrte ungläubig zu dem Mann hinauf. Dann zeigte es ihm einen Vogel. „Seh‘ ich aus, als hätte ich nichts Besseres zu tun? Kletter doch selbst runter, alter Mann!“
Der Jäger seufzte und Rotkäppchen nahm sein Tun wieder auf. Nach einer Weile hörte es auf und ließ sich auf den Boden plumpsen. Der Jäger hatte sich nicht bewegt, sondern hatte ihm die ganze Zeit über zugesehen. Nach einer Weile wurde es Rotkäppchen zu dumm und es fragte: „Was machst du, Mann, den ganzen Tag, wenn nicht jemand kommt und Blumen zertritt?“ Der Jäger überlegte eine Weile. „Nun, ich sitze hier. Schaue mal durchs Fernglas, betrachte die Wolken, löse mein Kreuzworträtsel und warte.“ Rotkäppchen starrte nun auch wie der Jäger vor sich hin. „Worauf denn?“ Der Jäger beugte sich verschwörerisch zu ihm herab. „Dass der Wolf kommt.“ Rotkäppchen nickte kurz. „Hab‘ ihn vorhin gesehen. Ist ein Schisser, sag ich dir. Der wird sich nie aus seinem Bau trauen.“ Sie schwiegen eine Weile.
„Und du?“, fragte der Jäger dann. „Was machst du hier?“
Rotkäppchen zuckte mit den Schultern. „Blumen treten. Nee, eigentlich soll ich zu meiner Großmutter, aber stell dir vor, ich hab‘ keinen Bock darauf!“ Sie schwiegen wieder.
„Hey, guck mal da! Der Wolf ist gekommen!“, rief Rotkäppchen plötzlich. Der Jäger richtete sich auf und starrte angespannt auf den Wolf, der sich zwischen den Bäumen hatte blicken lassen. Die Zeit schien wie eingefroren; der Jäger starrte den Wolf an und der Wolf starrte den Jäger an. Rotkäppchen schaute vom Jäger zum Wolf und vom Wolf zum Jäger.
„Nun mach schon! Knall die Töle doch ab!“, schrie es dann. Doch der Jäger rührte sich nicht. Dann war der Moment vorbei, der Wolf war wieder verschwunden. Rotkäppchen begriff den Jäger nicht. Es starrte ihn wütend und voller Unverständnis an. „Mann, wieso schießt du denn nicht, wenn du die Möglichkeit hast?! Das war ´ne einmalige Chance, und du verpatzt sie! Ich versteh’s nicht!“ Der Jäger senkte betroffen den Kopf. „Ich konnte einfach nicht. Er hat so lieb ausgesehen … ich konnte nicht schießen …“ Rotkäppchen schüttelte voller Unglauben den Kopf. Es bückte sich, hob den Kugelschreiber auf, der schon die ganze Zeit neben ihm lag und reichte ihn hoch. „Hier, alter Mann, es ist besser, du bleibst beim Rätsellösen. Such dir ´nen anderen Job!“ Rotkäppchen steckte die Fäuste in die Taschen und verschwand.
Es ging nicht lange, da tauchte der Wolf wieder neben Rotkäppchen auf. Sie gingen eine Weile nebeneinander, dann meinte es: „Hast aber echt Schwein gehabt, dass der Jäger nicht geschossen hat.“ Der Wolf antwortete nicht. Rotkäppchen hing seinen Gedanken nach, dachte an seine Großmutter, seine Mutter, den Jäger und den Wolf, als ihm plötzlich ein Gedankenblitz kam. „Hey, Wolf!“, rief es laut aus und blieb stehen. „Hast du nicht Hunger?“ Der Wolf war ebenfalls stehen geblieben und schaute es nun an. „Naja, schon. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde dich nicht fressen.“ Rotkäppchen verdrehte die Augen. „Das könntest du gar nicht. Ich bin viel stärker als du. Aber hör mal! Dort drüben irgendwo wohnt meine Großmutter, die ich besuchen soll. Du erkennst am Gestank, dass du richtig bist. Tu mir den Gefallen und friss sie auf.“ Rotkäppchen lächelte. Sein Plan war großartig, damit wären alle seine Sorgen gelöst. Doch der Wolf hatte vor Schreck die Augen ganz weit aufgerissen. „Das kann ich nicht! Ich fresse keine Menschen!“ Rotkäppchen seufzte. „Kannst du nicht einmal in deinem Leben etwas Gutes tun? Du hast dem Jäger schon seinen Traum zerstört, indem du einfach abgehauen bist, anstatt dich abknallen zu lassen, also erfüll´ wenigstens meinen Traum! Wolf, du weißt, dass ich dich auch zwingen kann! Tu’s jetzt oder tu’s nachdem du Schmerzen gelitten hast!“ Der Wolf, der immer kleiner geworden war, gab sich geschlagen. „Okay, okay. Was soll ich tun?“ Rotkäppchen lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.
„So ist´s richtig. Geh zu ihr hin und lass es dir schmecken. Ich komme dir nach und schaue, ob du deine Aufgabe auch erfüllst.“
Und so machte sich der Wolf auf den Weg. Er folgte seiner Nase zu der kleinen Hütte, an der er schon mehrmals vorbeigelaufen war. Er zögerte einen Moment, als er vor der Tür stand. Dann fasste er einen Entschluss und klopfte an.
Die Großmutter war alt und krank; schon lange war sie zu schwach, um weit mehr als aus dem Bett zu kommen. Als sie das Klopfen hörte, krächzte sie nur: „Komm rein, es ist offen!“
Es war dunkel im Zimmer und die Großmutter war schon fast blind, sodass sie nur Umrisse erkannte. Als sich die Zimmertür öffnete, hauchte sie: „Mein Gott, Rotkäppchen bist du groß geworden! Gar verändert hast du dich! Sag, Rotkäppchen, wieso hast du so große Ohren?“ – „Damit ich dich besser hören kann!“, antwortete der Wolf.
„Und, Rotkäppchen, wieso hast du so große Augen?“
„Damit ich dich besser sehen kann!“
„Rotkäppchen, wieso hast du so riesige Hände?“
„Damit ich dich besser packen kann!“
„Und, Rotkäppchen! Wieso hast du so einen abscheulich großen Mund?“
„Damit ich dich besser fressen kann!“, brüllte der Wolf und die Großmutter schrie.
Rotkäppchen hatte draußen unter dem Fenster gehockt und sich alles mit angehört. Nun lachte das kleine Mädchen vergnügt, voller Schadenfreude über das, was seiner Großmutter widerfahren war. Es rieb sich die kleinen, bösen Hände und dachte nur an seine gewonnene Freiheit. Es stand auf, durstig vom Lachen und ging hinüber zum Brunnen, um zu trinken. Es lachte noch immer und so hörte es nicht, wie sich der Wolf von hinten anschlich, Anlauf nahm und das kleine, böse Rotkäppchen in den Brunnen schubste. Rotkäppchen fiel und schrie und erkannte seine Dummheit, während der Wolf oben stand, der Großmutter zulächelte und stolz war, dass er endlich etwas wirklich Gutes getan hatte.
Isabel Terhaag (2011)
Erschienen in der Anthologie „Wenn das die Grimms wüssten!“ des art&words Verlag.
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