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Auch ich

Ein Beitrag zum Moerser Literaturpreis 2024

Auch ich musste zur Waffe greifen. Ich wollte ablehnen, aber man hat mir keine Wahl gelassen. Hätte ich es dennoch getan, wäre es meiner Familie schlecht ergangen.

Also bin ich hier. Wo dieses Hier auch immer sein mag? Erneut liege ich mit den anderen in graubraunen Dreck und frage mich an, ob ich den nächsten Tag noch erleben werde. Schlamm, vermischt mit allgegenwärtigem Schutt ist zu unserer Welt geworden. Und die Luft, die wir atmen – der wir genauso wenig entkommen wie diesem Ort – ist von Schwarzpulver und dem Geruch von verbranntem menschlichem Fleisch erfüllt. Wird mein Körper bald auch so riechen?

In den letzten Tagen habe ich oft an Flucht gedacht. Aber wohin? Zurück in die Heimat? Nein. Einem Deserteur wird es schlecht ergehen. Meine Familie würde nichts mehr von mir wissen wollen. An die drakonischen Strafen, wenn man mich erwischen würde, will ich gar nicht erst denken. Aber überlaufen zum Feind? In die Arme der Faschisten, wie es heißt?

Wie naiv wir doch waren. Glaubten wir allen Ernstes, wir hätten diese Ideologie im Zweiten Weltkrieg ausgerottet. Doch nun wissen wir es besser. Sie hatten sich all die Jahre lediglich versteckt und auf den richtigen Moment gewartet. Währenddessen war ihr Mut gewachsen und dann endlich sahen sie ihre Zeit erneut gekommen. 

Aber wo sind diese Faschisten, die wir bekämpfen? In den Städten und Dörfern, die wir in Schutt und Asche legen, entdecke ich keine Anzeichen dafür. Keine nationalistischen Symbole oder Glorifizierungen ihres korrupten Präsidenten. Alles, was ich sehe, sind einfache Menschen – junge wie alte. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie panisch vor uns fliehen.

Und sie haben auch jeden Grund davonzulaufen, denn unsere Offiziere sind nicht an Gefangenen interessiert. Sie verlangen, dass wir auf unschuldige Frauen und Kinder schießen. Und wenn sie die Mütter nicht sofort erschießen, dann vergehen sie sich an ihnen. Oft auch mehrmals. Wie kann ich guten Gewissens für ein Land kämpfen, dass solche Gräuel zulässt und sogar verlangt? Sollten wir nicht vielmehr rechtschaffene Patrioten sein? Überzeugte und stolze Vertreter unserer Nation?

Gestern wäre ich beinahe zum Mörder geworden. Ich wollte meinen befehlshabenden Offizier erschießen. Mit Entsetzen hatte ich mit ansehen müssen, wie er ein ängstlich wimmerndes Kind, das vor seiner toten Mutter kniete, kaltblütig in den Kopf schoss. Das satanische Grinsen, das er dabei zur Schau trug, trieb mir unbändige Wut in die Adern. Ich habe es nur deswegen nicht abgedrückt, weil ich selbst viel zu viel Angst hatte. Angst davor, dass meine Kameraden mich danach lynchen würden.

Ich zucke zusammen. Was ist das für ein Geräusch? Ich drehe panisch den Kopf und rechne fest damit, in den Gewehrlauf eines feindlichen Soldaten zu sehen. Mein Herz rast und die Angst zu sterben, übermannt mich beinahe. Aber dann entdecke ich eine andere Ursache für den seltsamen Klang. Piotr sitzt im Schlamm und ist mit seinem Gewehr im Arm schnarchend eingenickt. Welch ein bizarrer Anblick mitten im Schützengraben. Aber es ist gefährlich. Denn seine lautstarken Laute können unseren Standort verraten. Ich muss ich wecken, bevor er uns ins Verderben stürzt.

Ich strecke meinen Arm aus und will ihn rütteln. Doch mitten in der Bewegung verharrt meine Hand unsicher in der Luft. Ist das überhaupt Piotr? Oder war sein Name Dimitri? Vielleicht auch ganz anders. Ich weiß es nicht. Dreckig, wie wir alle sind, sieht einer aus wie der andere. Im Krieg geht jede Individualität verloren. Wir sind keine Menschen mehr, sondern nur noch Fleisch. Wenn ich morgen nicht mehr bin, nimmt ein anderes Stück Fleisch meinen Platz ein. Warum sich noch Namen merken?

Unser Feldlager ist aufgeschlagen und ich habe Glück – in dieser Nacht musst ich nicht Wache halten – andere wurden dazu verdonnert. Ich beneide die armen Teufel nicht. Werden sie es doch sein, die sich bei einem Überfall als erstes eine Kugel einfangen. Aber womöglich sterben wir auch alle zusammen. Denn in diesem Krieg kommt die Gefahr meist von oben. Drohnen, einst nur Spielzeuge oder Werkzeuge von Videofilmern, sind längst zu Gerätschaften von Tod und Terror geworden. Anonyme Todesmaschinen, die unser Feind perfekt beherrscht.

Vergangenen Sommer war es besonders schlimm. Jedes Summen eines in der Nähe befindlichen Insekts ließ mich panisch aufschrecken. Die natürlichen Geräusche dieser Tiere sind kaum vom entfernten Surren der elektrisch betriebenen Rotoren zu unterscheiden. Jetzt im Winter mit seiner eisigen Kälte, ist es ruhiger geworden. Die Drohnenangriffe haben abgenommen, da die akkubetriebenen Geräte nicht gut mit der Witterung klarkommen. Aber der Frühling, sofern ich ihn noch erlebe, ist nicht mehr fern und die Gefahr aus der Luft wird zurückkehren.

Gefahr – als wenn der Feind, dem wir gegenüberstehen, nicht schon genug Angst verbreiten würde. Meine Sorgen sind dreimal so groß. Denn auch meine Kameraden könnten jederzeit zu Feinden werden. Bisher hat noch niemand Verdacht geschöpft, denn wenn alle versuchen, nur das eigene Leben zu bewahren, ist die Wahrnehmung verengt. Aber wie lange wird mein gefährliches Geheimnis noch unentdeckt bleiben?

Niemand weiß es, aber ich schieße mit Absicht daneben. Ich will keine Menschen töten. Ich habe diesen Krieg nicht gewollt und bin wider Willen eingezogen worden. Mir ist bewusst, dass ich mich dadurch in zusätzliche Todesgefahr begebe. Denn ein feindlicher Soldat wird keine Rücksicht nehmen, wenn ich ihn verschone. Woher sollte er meine Intention auch kennen?

Allein wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt, werde ich gezielt schießen. Zivilisten sind tabu – egal, was man mir befiehlt. In diesem widerwärtigen Konflikt mag ich mein Leben vielleicht schon morgen verlieren, meine Menschlichkeit verteidige ich aber bis zuletzt. Ich kann nur beten, dass es niemand bemerkt – Feigheit vor dem Feind wird mit dem Tode bestraft.

Gerüchte gehen durch das Lager. Morgen, so heißt es, ist ein weiterer Vorstoß geplant. Irgendein Dorf, von dem ich noch nie gehört habe, ist das nächste Ziel. Dort sollen wir auf befreundete Einheiten treffen. Noch während ich mich frage, was an diesem Dorf wohl so wichtig sei, sehe ich, wie Leutnant Kurmov auf uns zukommt.

Er holt tief Luft und beginnt zu sprechen. Mit einer flammenden Rede bereitet er uns auf den morgigen Konflikt vor. Seine Augen sind voller Feuer und sein Gesicht strahlt absolute Zuversicht aus. Ein Hauch von Unsterblichkeit liegt in der Luft. Ich jedoch habe seinen Gesichtsausdruck bereits gesehen, als er noch auf dem Weg zu uns war. Darin las ich nur Verzweiflung. Werden wir morgen alle sterben?

Kurmov ist tot. Er fiel als Erster. Ohne Zweifel hat der Gegner uns erwartet – womöglich sogar diesen Vorstoß provoziert. Meine Kameraden fallen wie Dominosteine, die niemand mehr aufzurichten vermag. Wie ein Toter liege auch ich ausgestreckt auf dem aufgerissenen Acker und drücke meinen Kopf verzweifelt in den Dreck. Wie ein Kind, das glaubt, wenn es selbst nichts sieht, es auch nicht gesehen wird, klammere ich mich an die trügerische Hoffnung des Überlebens.

Ich hatte mich einfach fallen gelassen, als ich begriff, dass wir in eine Todesfalle geraten waren. Ich spiele toter Mann, obgleich das alles andere als ein Spiel ist.

Die lauten Schritte schwerer Stiefel hasten links und rechts an mir vorbei. Sie kommen aus dem Dorf, das wir nie erreichen konnten. Immer wieder Schüsse. Weitere Soldaten streifen meinen Körper – sie brüllen Befehle. Jetzt sind sie in meinem Rücken. Reglos verharre ich in der Falle, die ich mir selbst gestellt habe.

Schreie, Stöhnen, immer wieder Schüsse und unendliches Leid – das Sterben nimmt kein Ende. Sekunden werden zu Minuten und Minuten zu Stunden, bis der Lärm endlich verstummt.

Es beginnt zu schneien und ich friere. Hier kann ich nicht bleiben oder der Kältetod wird mich holen. So vorsichtig wie nur möglich drehe ich den Kopf über dem Boden nach links und versuche etwas zu erkennen. Nichts. Dann wende ich den Kopf auf die andere Seite – wieder nichts. Kann ich es wagen? Mein schlotternder Körper beantworte die Frage für mich. Mit steifen Gliedern gehe ich vorsichtig in die Hocke. Es schneit jetzt heftiger. Gut. Der Vorhang aus weißen Flocken verstärkt die Deckung. Bleiern richte ich mich auf. Eine unnatürliche Ruhe hat sich über die Szenerie gelegt – ein Hauch von Einsamkeit.

Wohin soll ich mich wenden? Ich kann weder vor noch zurück. Der Feind ist überall. Vielleicht sollte ich es seitlich ver…

Ein Schuss!

Der trügerische Stille wird jäh durchbrochen und mein Körper beschleunigt ruckartig nach vorn. Ich verliere jede Kraft und stürze unkontrolliert zu Boden. Für einen kurzen Moment war mein Rücken von sengendem Schmerz erfüllt, aber jetzt ist da nichts mehr. Stattdessen breitet sich Kälte aus. Keine Winterkälte. Diese ist anders. Sie kommt von innen und ist nicht aufzuhalten. Mit einer irrationalen Ruhe wird mir klar, dass ich jetzt sterben werde. Ein weiteres Opfer dieses sinnlosen Krieges. Es ist so weit. Auch ich …

Ende

Published inBelletristikKurzgeschichte

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